Formenvielfalt wie Schneeflocken

und in ihrer Schönheit als solche nur schwer erkennbar, so ist heutige Lyrik häufig zu charakterisieren. Als Oberflächennutzer von Bildschirmen kennen wir eben zu viel und wissen häufig zu wenig.

Darum fiel auch uns erst nach eingehender Bearbeitung und Betrachtung auf, welch subtiles Kunstwerk Nicanor Parras Gedicht “What is poetry?” von Anfang an ist.

Parra, der Chilene, stellt eine angloamerikanische Frage und setzt ihr eine lateinamerikanische Antwort entgegen. Schon dieses Verhältnis lässt sich nicht einfach ins Deutsche übertragen. In jeder Zeile betont Parra die Veränderung, das Prozessuale; selbst anhand von Feststehendem.

Die zum Gedicht abgedruckte Übertragung von Thomas Brovot verwendet für „poesia“ und „prosa“ bei ansonsten durchgängig gebrauchter Kleinschreibung Großbuchstaben und betont so die Substanz (Substantive). „Poesie“ und „Prosa“ damit auf seine Weise abhebend gleichsetzend.

Angloamerikanische „poetry“ ist keine „poesia“!

Poetry bremst sich lautlich durch das „R“ aus, welches bei Parra in der zweiten und vierten Zeile die pRosa kennzeichnet. Genau das greift die Verschiedenheit beider Amerika wieder auf. Lateinamerika, Reden, ist lebendig, „dice es poesia“, „mueve es poesia“: gegen die erstaRRte SatuRieRheit der SchReibmacht AngloameRikas.

Die Schwierigkeiten der Übertragung in deutsche Sprache/Kultur lassen sich nicht beheben. Mit unserer Übertragung versuchen wir deshalb die künstlerische Komposition des Gedichts zu retten, die insbesondere eine klangliche ist. Das dreifache „todo lo que“, an das dreimal ein „se“ anbindet und dieses in ein „es“ umkehrt, bildet den fliegenden Klangteppich vor dem das verkürzte „lo que“ mit einer komplizierten Struktur – „no“ „de“ „es“ – des Starren auftritt.

Unsere Übersetzung erhält diese Struktur mit einem ebenfalls dreifachen „alles das was sich“ und dem analog verkürzten „das was“ aufrecht. Sicher, „alles das was sich sagt“ oder „ausschreibt“ ist ungewöhnlicher Sprachgebrauch. Doch wir haben es mit einem Kunstwerk zu tun und das wiegt bei der Übertragung schwerer als herkömmlicher Sprachgebrauch.

Wenn wir Parra mit seinem Gedicht ernst nehmen, dann müssen wir Poesie sprechen und uns oder etwas in der Poesie sprechen; das fordert die erste Zeile des Gedichts. Wenn wir die an- und ausgesprochenen Klangräume der Zeilen hören, dann können unser Ohren ohne irgendeine Semantik folgern: dice es poesia, mueve es poesia und ebenso: escRibe es pRosa, lugaR es pRosa, poetRy es pRosa!

Die letzte, so nicht formulierte, nur abgeleitete Phrase gilt es dabei zweifach aufzufassen; sowohl widersprüchlich als auch komplementär. Widersprüchlichkeit stellt sich schon ein, wenn Poesie, wie hier von Parra, aufgeschrieben wird. Komplementarität stellt sich ein, wenn wir beispielsweise an Prosagedichte [Zu einem Prosagedicht-Beispiel?] oder lyrische Märchen denken.
Parra spielt hier, mit Begriffen, mit unserem Verständnis, mit uns. Er will uns mit „poesia“ in Bewegung versetzen. Unmöglich konnten wir deshalb Poesie und Prosa bedachterweise in unserer Übertragung groß schreiben.

Aus demselben Grund, Bewegung, fühlten wir uns berechtigt, die beiden Silben des „dice“ zu der einen des „sagt“ zu verkürzen.  Die letzte Zeile mit der aufwendigen Konstruktion, „no cambia de lugaR“ auf „stillsteht“ erst radikal zu verkürzen, dann um ihr BRemselement zu bringen und die „Prosa“ so entgegen ihres Wesens deutlich zu beschleunigen, trauten wir uns weder als Form- noch als Sinnentsprechung darzubieten. Gegenteils, wir ließen ein drittes „R“ zu und wählten eine Konstruktion, die eine dreifache Lesart zulässt. Wir meinen, Poesie könne sowohl das sein, was sich als auch was etwas am Standort ändert, wie auch was sich - etwas kombinierend oder wechselwirkend am Standort verändert.

Wir kommen darauf, weil Parras Gedicht ein vielfaches Formenspiel minimalistisch umsetzt. Die englische Titel-Frage nach der Poesie erfolgt mit einem deutlichen Knall, „What“. Aus dem anglo- und lateinamerikanischen Unterschied zwischen Titel und Gedicht wird dann folgend ein Wechselspiel von Poesie und Prosa – wohlgemerkt, kein Gegensatz! Unterschiede bleiben folglich bestehen, variierend, wiederholend.
Das dreifache „todo lo que“ sagt es deutlich, es ist Wiederholung, nicht Gleichheit, wofür eine bloß doppelte Formulierung („alles was man“) ausreichte. Und Variation, weil die vierte Formel auf „lo que“ verkürzt. Damit wechselt sie ihrerseits von vielfach verallgemeinerten (todo), einfachen und feststellenden Aussagen zu einer einzelnen konkretisierten, (grammatisch) komplizierteren und verneinend offen-lassenden Aussage. Gerade bei letzterer verursacht die aus dem Raum herausgenommene Zeit, „no cambia“, das Herausfallen aus der Poesie, das Herausfallen aus dem Leben, die komplizierte Erstarrung zur Prosa.

Nicanor Parras fünf Zeilen, den Titel mit eingerechnet, sind alles andere als dahingeschriebene Floskeln. Nicanor Parras „What is poetry?“ ist Mut zur Kunst am Grunde des Lebens.

Mit diesem Mut haben wir das Gedicht übertragen, sprechen es aber lieber original im Grundrhythmus von Parras Poetry-Gedicht. (Weitere, in der Interpretation mitschwingende Konzepte Sinus_Limnie_rot_klein_2

„todo lo que – se – es – poesia“!


Parra_Poesia_Takte

Stenkamp § / Parra §

Wir konnten es noch immer nicht lassen; Takte ohne Worte geben Nicanor Parras Poem nur unvollständig wieder. Von seinem Kunstwerk in Bann geschlagen, haben wir uns mit einer weiteren, diesmal kundigeren Übertragung von diesem Bann befreit und können nun unbefangener mit dem Original leben.

 

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