Lange klang Lyrik zur Lyra

und eine musikalische Notation sollte kaum überraschen. Unsere Poetry-Partitur sieht dennoch, für ein Gedicht, ungewöhnlich aus; ja wenn’s ein Lied wäre.

Doch unsere Darstellung erhellt manches, was klassischer Verslehre entgeht und zeigt eine mit dem Gedicht verbundene Schicht, für die in unserer Kultur selten ein angemessenes Verständnis entwickelt wird – nämlich Rhythmus. (Wir geben zu, diese Darstellung zeigt auch, dass wir keine vollständig entsprechende Übertragung ins Deutsche zustande gebracht haben.)

Deshalb untersuchen wir Parras What is poetry? intensiv mit einem 4/4-Takt

Poesia_Takte_44_pur_B_kleinSchon der Titel knallt voll rein, mit einem satten tam – tam – tam – tam – tam; welches mit einem Takt allerdings nicht auskommt und deshalb in einen zweiten übergreift, als Setzung und, aufgrund der drei restlichen stummen Viertel des Taktes, als vordefinierten Raum einer Antwort. Die Akzente liegen dabei wie selbstverständlich auf den beiden ersten Vierteln. Nur nebenher erwähnt, sei die ‘angloamerikanische’ Präsentation der Titeltakte, wie auf nebenstehendem MRT-Schaubild°;

Diesem Auftakt folgen exakt zwölf vollständige ‘lateinamerikanische’ 4/4-Takte zur Sache. Als Gegenpart zur gestellten Frage liegen ihre Akzente zuerst auf dem Schluss jeden Taktes,
ta – ta – ta – tá . Allerdings wendet Parra mit dem Rhythmus in der zweiten Zeile einen Kunstgriff an, den die Lyrik sonst als Zeilensprung oder Enjambement kennt, der aber nur im Takt, nicht im Text sichtbar wird. Denn die zweite Zeile endet mit pro-sa, den Akzent auf dem -sa, welches sich zwar am Ende dieser Zeile, jedoch erst auf dem dritten Viertel des Taktes befindet,
ta - ta - tá - ta.

Parra nutzt also aus, dass po-e-si-a einen vollständig klaren Takt repräsentieren kann. Pro-sa stehen wesentlich weniger Möglichkeiten zur Verfügung! Das führt dazu, dass im weiteren Verlauf des Gedichtes die „poesia“ ihren Akzent innerhalb des Taktes unbeschadet verschieben kann. Die „prosa“ wird jedoch entgegen dem Akzent verschoben und zwar von der Mitte heraus an den Rand. Des Weiteren teilt Parra mit der Akzentverschiebung die zwölf Takte in zwei Gruppen von je fünf und sieben. Das macht die Gruppen ihrerseits prim, weil Fünf und Sieben einander nicht ungebrochen faktorisieren können.

Die Verschiebung führt dazu, dass in der letzten Zeile auf die im Titel gestellte Frage die „prosa“ offen bleibt; der Akzent liegt auf der bRemse pRo, dem das -sa folgt. Poesia dagegen konnte sich selbst unter veränderten Bedingungen vollständig in ihrem Rhythmus behaupten.

Und damit ist das Gedicht fertig!

Kritikern bleibt nur Schweigen, vielleicht auch noch Fingerklopfen, denn schließlich ist Rhythmus kein Argument. Worte brauchte das Orignial nur wenige, ausschließlich semantischen Übersetzungen legt es falsche Fährten vorgeblich substantivieller Bedeutung von “Poesie” und “Prosa”. Uns aber scheint die rhythmische Notation als wesentlicher Aspekt jeder Übertragung, weg von der Semantik, ganz klar hin zum Rhythmus, zum Schwingen, zur Bewegung, zum Leben, mit einem Wort, zum 4/4-Takt. (Wer mag kann auch mit einem ternären Rhythmus undoder anderen Akzentuierungen der Takte experimentieren)

So liest doch kein Mensch, hören wir und wissen es anders, sie können, die Menschen, es besser sogarR. Mit einer geheimen, kundigen Übertragung bieten wir eine vorläufig letzte Variante unsererseits. Wir meinen, Nicanor Parras What is poetry? ist damit wiederbelebt, auch mit Anklängen seiner lateinamerikanischen Aspekte, auch für den deutschsprachigen Kulturraum und sogar für die Musik.

° MRT = Melodik - Rhythmik - Taktik-Schaubild

 

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